Dienstag, 27. September 2011

Schneller als es die Physik erlaubt?

Kennen Sie den? "The bartender says, 'We don't serve neutrinos here.' A neutrino walks into a bar." Nun ja, Witze, welche die Kausalität auf Korn nehmen, sind seit wenigen Tagen "in". Der Grund ist folgender kleine Artikel, der im arXiv hinterlegt worden ist:

http://arxiv.org/abs/1109.4897

Darin berichten mehr als eine Handvoll Physiker des CERN / Gran Sasso Laboratory über eine verstörende Meßreihe an Myonen-Neutrinos, die, sollten sich ihre Messungen bestätigen, zwangsläufig zu einem erneuten Nachdenken über die Grundlagen der Physik führen wird. Aber soweit ist es lange noch nicht. Also um was geht es? Es geht um "superluminale" Neutrinos, d.h. um Neutrinos, die mit Überlichtgeschwindigkeit durch die Gegend reisen. Also kurz gesagt, die Meßreihen deuten darauf hin (mit einer Signifikanz von immerhin 6 Sigma - für die Insider), daß ein Myonen-Neutrino, welche aus der Vorbeschleunigerstrecke des LHC ausgekoppelt wurde, seinen Detektor, der im 731 km entfernten unterirdischen Gran Sasso-Laboratorium steht und auf den Namen OPERA hört, 60 ns eher erreicht als wenn es mit Vakuum-Lichtgeschwindigkeit reisen würde. Warum das ein unerhörtes Ergebnis ist, auf die sich selbst Tageszeitungen stürzten ("Müssen wir Onkel Albert wieder ausgraben?") will ich erst später, nach dem ich etwas über das drumherum berichtet habe, erzählen.

Also was sind nun diese Neutrinos für Teilchen, die entsprechend der Speziellen Relativitätstheorie unter Umständen "eher" da sein sollen, als sie weggeflogen sind? Auskunft gibt uns darüber das Standardmodell der Elementarteilchen. So hat darin jedes Lepton (Elektron, Myon, Tau-Lepton) einen nur schwach wechselwirkenden, elektrisch neutralen Kumpel, das Elektronen-Neutrino, das Myonen-Neutrino und schließlich das Tau-Neutrino - ebenfalls alles Leptonen und Fermionen (d.h. Spin 1/2-Teilchen). Alle diese Neutrino-Flavors sind mittlerweile experimentell nachgewiesen (auf die Diskussion der jeweiligen Antiteilchen verzichte ich hier). So durchdringen uns Tag und Nacht pro Quadratzentimeter und Sekunde ca. 7x10^10 Neutrinos allein von der Sonne, ohne das wir etwas davon merken. Grund dafür ist der extrem geringe Wirkungsquerschnitt dieser Teilchen (~10^-45 cm²/Nukleon). Für sie gibt es die Erde als Hindernis quasi nicht.

Neutrino besitzen aber offensichtlich eine Eigenschaft, die so vom Standardmodell nicht vorhergesagt wird. Nach dem Standardmodell sollten Neutrinos wie die Photonen ruhemasselos sein und sich im Vakuum mit Vakuumlichtgeschwindigkeit bewegen, d.h. in einer Sekunde sollten sie eine Strecke von genau 299 792 458 Metern zurücklegen. Das Sonnenneutrinoproblem zeigt aber, daß Neutrinos wahrscheinlich doch eine, wenn auch sehr kleine Ruhemasse besitzen müssen, denn sie zeigen einen Effekt, den man als "Neutrino-Oszillation" bezeichnet. Und hier muß ich etwas konkreter werden: Neutrino-Oszillationen, also die periodische Umwandlung von einer Neutrinoart in eine andere, folgt aus der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung. Besitzt nämlich ein Neutrino eine kleine, aber endliche Ruhemasse und ist die sogenannte Leptonenzahl (Lk indiziert die Leptonenfamilien) keine streng gültige Erhaltungsgröße mehr, dann brauchen die Neutrinozustände nicht mehr zwangsläufig Energie- bzw. Masseneigenzustände zu sein. Es kann zur Neutrinomischung und damit zum Phänomen der Neutrinooszillationen kommen. Da aber das Raum-Zeit-Verhalten eines Elementarteilchens ganz durch seine Masse m bestimmt ist, können in einem sich ausbreitenden Neutrinowellenpaket die Masseneigenzustände untereinander interferieren, was zu einer sich periodisch ändernden Identität (Flavor) des Neutrinos führt. Als Beispiel sollen die im OPERA-Experiment untersuchten Neutrinozustände, ein Myonenneutrino-Zustand |νμ>  und ein Tauneutrino-Zustand |ντ> , betrachtet werden. Wenn Neutrinos eine Ruhemasse habe, dann kann nach Bruno Pontecorvo (1968) z.B. der Myonenneutrinozustand |νμ> aus einer Linearkombination von zwei verschiedenen Masseeigenzuständen |m1>  und |m2>  mit den Massen m1 und und m2 bestehen. Das heißt in der üblichen Schreibweise´



wobei Θ den Mischungswinkel bezeichnet. Da die Zustände |m1> und |m2> orthogonal sind, ist


Diese Zustände werden bei schwachen Wechselwirkungsprozessen erzeugt und repräsentieren nicht mehr ein Teilchen bestimmter Masse, sondern eine Kombination von Zuständen verschiedener, massebesitzender Teilchen. Das bedeutet, daß ein als Myonenneutrino erzeugter Zustand mit einem bestimmten Impuls p sich mit zwei verschiedenen Massenzuständen unterschiedlicher Geschwindigkeiten im Raum ausbreitet. Dabei ändern sich die Phasenbeziehungen innerhalb des Mischzustandes was dazu führen kann, daß ein Myonenneutrino am Detektor als Tauneutrino registriert wird. Oder verallgemeinert gesagt, Neutrinos können auf ihrem Weg von ihrem Entstehungsort (Genf) bis zum Detektor (Gran Sasso) periodisch ihre Identität ändern – d.h., sie oszillieren. 

Mit den Methoden der Quantenmechanik können bei gegebener Massedifferenz Δm leicht die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der einen oder anderen Neutrinoart am Detektor berechnet werden. Die für praktische Messungen wichtige Vakuum-Oszillationslänge λ ergibt sich dann aus:


Für Myonenneutrinos, die als Sekundärteilchen in der Erdatmosphäre erzeugt werden, liegt die Oszillationslänge nach Messungen mit dem Super-Kamiokande-Detektor (Japan) in der Größenordnung des Erddurchmessers. 

Es ist klar, daß derartige theoretische Voraussagen akribisch experimentell geprüft werden müssen. So gesehen wäre es ganz interessant festzustellen, was z.B. mit einem Myonen-Neutrino wirklich passiert, wenn es von der Schweiz aus einen Abstecher nach Italien macht. Um genau das zu erforschen, wurde das Experiment OPERA (Oscillation Project with Emulsion tRacking Apparatus) erdacht und aufgebaut. Kurz gesagt, dieser Detektor wurde entworfen, um Tau-Neutrinos genau dort nachzuweisen, wo es mit Sicherheit keine gibt. Es sei denn, ein völlig reiner Neutrinostrahl, der am LHC in Genf erzeugt und nach Gran Sasso geschickt wird, wandelt sich zu einem Teil in Tau-Neutrinos um. Und genau das geschieht wirklich. Voriges Jahr konnten die ersten Tau-Neutrinos am OPERA-Detektor nachgewiesen werden. Schon vor diesem Erfolg kam man auf die Idee, die Geschwindigkeit der Neutrinos messen zu wollen, denn nach Onkel Alberts Theorie sollten ruhemassebehaftete Teilchen immer langsamer reisen als das Licht im Vakuum des Weltalls. Und wie mißt man Geschwindigkeiten? In dem man die Zeit mißt, welches ein Teilchen für eine bestimmte, genau ausgemessene Strecke benötigt. In diesem konkreten Fall mußte als Erstes die Entfernung zwischen dem Entstehungsort der Myonen-Neutrinos (ein Graphitblock am Ausgang der Vorbeschleunigerstrecke des LHC) und dem OPERA-Detektor mit nie dagewesener Genauigkeit bestimmt werden (als "Luftlinie" der Sehne zwischen beiden Orten durch die Erde). Diese Aufgabe wurde mit Hilfe von GPS-Satelliten gelöst, wobei eine Unsicherheit in der Streckenmessung von 20 Zentimetern in Kauf genommen werden mußte (eine höhere Genauigkeit ist z.Z. nicht drin, es sei denn, man sperrt den Gran Sasso-Tunnel für den Autoverkehr. Aber wer soll das genehmigen?):  731,278 km.

Die Zeitmessung erfolgte nicht für jedes detektierte Neutrino separat (der Neutrinonachweis im OPERA-Detektor erfolgt über den Nachweis sogenannter geladener Ströme, näheres siehe arXiv-Artikel), sondern die mittlere Fluggeschwindigkeit wurde über statistische Verfahren abgeleitet, wobei hochgenaue, über GPS synchronisierte Atom-Zeitstandards zur Anwendung kamen. Insgesamt gingen in das Ergebnis 16111 Neutrino-Ereignisse ein. Als man am Ende die Geschwindigkeit berechnet hat, kam als Ergebnis heraus, daß die Neutrinos um 0.00248% schneller waren als das Licht im Vakuum. Oder anders ausgedrückt, sie haben in einer Sekunde rund 18 m mehr zurückgelegt als ein Lichtstrahl im Vakuum in der gleichen Zeit. Der Witz an der Sache ist, daß dieses Ergebnis im Sinne der Fehleranalyse signifikant ist. Aber glauben kann man das Ergebnis nicht wirklich. Dafür steht einfach zuviel auf dem Spiel. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, daß dieses Resultat von anderen Experimentalphysikern unabhängig geprüft wird. Zusätzlich ist die Frage zu klären, ob nicht doch irgendwelche systematische Fehler, deren Ursachen (noch) nicht bekannt sind, diese Anomalie hervorrufen. Auf jeden Fall ist es noch viel zu früh, um über eine "Falsifizierung" der ansonsten außergewöhnlich gut empirisch getesteten Speziellen Relativitätstheorie zu spekulieren (die Lorentz-Invarianz gilt immer noch als ehernes Naturgesetz). Andererseits, sollten sich die Ergebnisse des OPERA-Teams bestätigen, dann schlägt die Stunde der Theoretiker. Denn sie untersuchen schon lange im Rahmen einer Erweiterung des Standardmodells Neutrinomodelle mit einer "Tachyonenkomponente". Dabei versteht man unter "Tachyonen" eine Familie hypothetischer Elementarteilchen, die sich im Einklang mit der Speziellen Relativitätstheorie immer mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen (sie besitzen aber eine untere Grenzgeschwindigkeit, die auch gleich der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit ist und nicht unterschritten werden kann). Auch sagen einige (der vielen) Stringtheorien voraus, das bestimmte Elementarteilchen "Abkürzungen" durch höhere Dimensionen nehmen können und deshalb "schneller" an einem Ort eintreffen, als der Fahrplan uns glauben läßt (dieser Effekt ist bei der Deutschen Bahn-AG unbekannt). Aber wie gesagt. Das sind alles Spekulationen. Entweder die Anomalie erklärt sich letztendlich durch banale Dinge wie

a) der Abstand zwischen LHC und OPERA ist doch nicht exakt genug bestimmt worden
b) die verwendete Zeitmessung beinhaltet systematische Fehler
c) die statistische Interpretation der Meßergebnisse ist fehlerhaft
d) noch unbekannte, aber "klassische" Effekte führten zu einem zu großen Wert der Neutrinogeschwindigkeit

Wenn das aber nicht der Fall sein sollte (was man in den nächsten Jahren sicherlich herausbekommen wird), dann erwartet uns eine aufregende "Neue Physik" hinter den Grenzen des Kausalitätsgesetzes. Dann ist es nicht mehr unmöglich, eher an einem Ort zu sein, als man dahin abgereist ist. Wie ging doch gleich der Joke? "The bartender says, 'We don't serve neutrinos here.' A neutrino walks into a bar.

Auflösung des Jokes

Angenommen, die Neutrinos bewegen sich mit einer Geschwindigkeit u. Nun betrachten wir zwei Inertialsysteme S und S', wobei sich Letzeres mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung bewegt. Weiterhin benötigen wir zwei Ereignisse mit den Eigenschaften
(Letzteres bedeutet, daß die zwei Ereignisse im System S gleichzeitig stattfinden)


Die Umrechnung von einem Inertialsystem in ein anderes erfolgt bekanntlich durch die Lorentz-Transformationen, das bedeutet also (mit β=v ⁄ c,  c = Vakuumlichtgeschwindigkeit)
Die beiden Formeln sagen aus, daß die beiden Ereignisse zwar in S gleichzeitig stattfinden, aber nicht in S‘. Unter der Bedingung  t≠ t2 gilt dann

Hier haben wir eine neue Geschwindigkeit  u=(x2-x1)/(t2-t1), über die sich beide Ereignisse im System S‘ verbinden lassen (z.B. die Reisegeschwindigkeit eines Myonen-Neutrinos):
Und nun zurück zu unserem Neutrino mit u > c  ... Angenommen, das Ereignis E1  beschreibt die Aussendung  eines derartigen Neutrinos in S mit der Maßgabe, daß es in S‘ das Ereignis E2 auslöst, dann kann man die Geschwindigkeit v von S‘ so wählen, das aus  t< t2 (in S)   t1' < t2'  (in S‘) wird. Das kann, wie obige Formel lehrt,  z.B. in der Form

Das bedeutet, daß  t2' < t1'  wird  für  t< t2 und die beiden Ereignisse von S‘ aus gesehen ihre Reihenfolge vertauschen (man spricht in der Physik von „raumartigen“ Ereignissen). Der Barkeeper beantwortet die Frage nach der Bedienung noch bevor das Neutrino erscheint, um ihn die Frage zu stellen. Überlichtgeschwindigkeiten machen die Kausalität kaputt.

Und hier noch eine interessante Studie, welche versucht die Frage "Can apparent superluminal neutrino speeds be explained as a quantum weak measurement?" zu beantworten. Wem die Ausführungen zu kompliziert sind, braucht nur den Abstract zu lesen ...



1 Kommentar:

  1. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass etwas vermeintlich Überlichtschnelles entdeckt wurde. Im Falle der Superluminal motion ( http://en.wikipedia.org/wiki/Superluminal_motion ) mussten die Astrophysiker sogar einsehen, dass Geometrie aus der Mittelstufe das Problem erklärt.

    Natürlich liegt die Sache hier anders – wir haben das Laboratorium ja vor Ort. Ich bin auf jeden Fall auch gespannt, aber auch froh, dass die Fachwelt auf dem Teppich bleibt.

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